IRMLER OESTERHELT – Formen
It happened to me the other day / Es trug sich mir neulich zu, dass ich eine Testpressung von FORMEN auf meinem Schallplattenspieler anhörte, und gleichzeitig Carl Holmquist, Jonas Mekas und Tracey Emin aus dem Internet sprachen, genauer gesagt: im Rahmen eines von Hans Ulrich Obrist moderierten Panels auf der Art Basel trugen sie eigene Lyrik vor. Die Musik und das gesprochene Wort harmonierten im Zusammenspiel unbeabsichtigt perfekt. Dies ist nicht zuletzt als Botschaft an jeden DJ zu verstehen, es einmal anders zu versuchen. Musik als Steinbruch des Möglichen.
Tatsächlich hören wir aber auch ohne Konkrete Poesie auf FORMEN zuvor nie Gehörtes, weil diese Musik permeabel / durchlässig ist — offen in alle Richtungen, imstande anzudocken, weil es sich um Musik der Vorstellungskraft handelt. Daher funktionieren die mögliche Lyrik und die tatsächlich auf Tonträger gepresste Musik so potenziell perfekt.* Vertraut klingen einzig die brachialen Register der Orgel Jochen Irmlers. Schon auf den letzten, den FORMEN vorangegangenen Alben hörten wir Irmlers Orgel im Zusammenspiel mit den Improvisationen und Grooves von Schlagzeugern wie Gudrun Gut, Jaki Liebezeit oder FM Einheit. Eine Musikreihe auf Vinyl und CD ist aus diesen Kollaborationen im Laufe der letzten Jahre entstanden.
Carl Oesterhelt hingegen, den wir als Trommler von Freiwillige Selbstkontrolle und als Mitglied des Tied + Tickled Trios kennen, verweigerte sich dem Naheliegenden. Wir hören ihn kaum Schlagzeug spielen auf FORMEN. Stattdessen hören wir ein Streichquartett und die seit Jahrhunderten in der Musik verbotene Instrumentenpaarung Klavier vs. Orgel. Oesterhelt hat ein Element, das wesentlich ist bei Freiwillige Selbstkontrolle, nämlich das Bewusstsein, Musik über Musik
zu machen, wie einen roten Faden in den Klangteppich / Klangvorhang FORMEN eingewebt. Iannis Xenakis (vgl. „Randbemerkung über das Zählen Nr. 1“), Erik Satie (vgl. „Arcueil“), Robert Schumann (vgl. „Deutsche Romantik“), Kraftwerk (vgl. deren „Spacelab“ mit Irmler/Oesterhelts Stück „Soleil vivant“), Zwölftonmusik (vgl. „Randbemerkung über das Zählen Nr. 2“) — sie und noch viele weitere andere Einflüsse erklingen in unterschiedlicher Intensität als Referenzpunkte in der Musik Irmler/Oesterhelts.
Über einen Zeitraum von zwölf Monaten trafen sich Irmler und Oesterhelt immer wieder für zwei, drei Tage. Selten wurde gejammt. Immer wurde gegessen und geredet, auch über Strategien und Konzepte in der Musik — und wie man sie im Zaum hält, dass sie die Musik nicht zu überschatten beginnen. Der Löwenanteil der Arbeit wurde bereits ganz zu Anfang geleistet (Oesterhelt hatte Partituren für Streicher geschrieben, das Streichquartett wurde ins Studio eingeladen, die Partituren materialisierten sich über Nacht als Musik). Carl Oesterhelt: „Es war für mich besonders interessant zu sehen, wie Jochen im Kontext eines neuen Versuchsaufbaus anders Orgel zu spielen begann. Von Wiederholung: keine Spur. Dadurch, dass ich mir die Grooves verkniff, mich eher in musikalischen Zitaten und als Klavierspieler einbrachte, fühlte Jochen sich wohl inspiriert, seinem Instrument ganz andere Spielweisen
zu entlocken. “Nachzuhören in seiner Reinform ist diese Beobachtung / These in dem zentralen Stück des Albums, „Ethiopian Suite“, auf welchem Irmler Orgel spielt wie
nie zuvor.
In diesem Sinne ist das Ergebnis dieser Gespräche in der Küche, FORMEN, ein Album geworden, dessen Protagonisten sich zugehört haben — und den Hörer explizit zum Zuhörer macht. Es ist eben kein im Kern Ideen der elektronischen Musik folgendes Album geworden wie seine Vorgänger, sondern eines, das sich eher der Neuen Musik öffnet. Freilich, im Unterschied zur meisten Neuen Musik unserer Zeit: Die (romantische) Melodik, auch in ihrer Dekonstruktion, spielt eine große Rolle, sie wird umarmt. Das liegt an den Streichern, am Klavier und am Saxophon, das im Stück „Watercolor“ zu hören ist, allesamt Melodieinstrumente, selbst wenn sie, wie das Klavier, gerne perkussiv gespielt werden. Carl Oesterhelt: „Mein Beitrag waren vor allem die Partituren für das Streichquartett. Wir haben den Rest des Albums quasi drum herum gebaut.“ Es ist eben diese permeable / durchlässige Herangehensweise, die FORMEN so kompatibel macht. Wie ein Filmscore zu dem Film, der das Leben selbst ist, vermögen sich die insgesamt 13 Stücke auf FORMEN einer jeden echten Stimmung anzuschmiegen, nicht zuletzt in der Küche — und dies ist eine dringende Empfehlung — wo man diese Platte beim Kochen hören sollte.
Man könnte also sagen: Cookin’ with the Irmler/Oesterholt Duo. Denn auch das haben wir, ebenso wie die versteckt-offensichtliche Annäherung an Kraftwerk, in dieser Reinform selten in der Vergangenheit bei Jochen Irmler gehört: Die Annäherung an die Freiheit des Jazz. Und so schließt sich der Kreis: Amerikanische Jazzwissenschaftler sollen unlängst herausgefunden haben, dass sich Neue Musik über Musik, die sich der Melodik und dem Jazz öffnet, herrlich andocken lässt, zum Beispiel an Carl Holmquists Vortrag Konkreter Poesie. Interessanterweise ist Irmler und Oesterholt somit gelungen, was viele Tracks aus der elektronischen Musik nur behaupten: Zusammenklang durch Zuhören ist nicht nur möglich, sondern führt zu wundervollem Zusammenklingen.
Während ich diesen Text schrieb, lief das Album in der Küche, buk im Ofen ein Schokoladenkuchen für Rosalia.
Max Dax, Neukölln, im August 2015
*= PS: Jean-Luc Godard sagte kürzlich in einem Interview, dass wir jedes Mal, wenn wir das Wort daher verwenden, zehn Euro an Griechenland zahlen sollten, da es die griechischen Philosophen gewesen sind, die für uns die Begrifflichkeit und somit die Ursache und die Vernunft für uns entdeckt haben.